Flucht aus Pflugrade 1945

< zurück >


Paul BRASCH (ein Großonkel von mir) hat folgenden Bericht über die Flucht aus Pflugrade abgegeben (abgedruckt in dem Buch „Der Kreis Naugard im März 1945 und danach ...“ -eine Dokumentation über Flucht und Vertreibung aus dem Kreise Naugard-, Eigenverlag des Heimatvereins Naugard e.V. 1997).
Dazu eine Anmerkung von mir: Einige Passagen und Formulierungen erscheinen heute sicherlich nicht mehr zeitgemäß und regen eventuell zu Widerspruch an. Ich gebe dabei jedoch zu bedenken, daß dieser Bericht unter dem Eindruck der unmittelbar überstandenen Flucht entstanden war. Die Menschen hatten alles verloren, was sie sich jemals aufgebaut hatten, größte Strapazen überstanden und viel Leid gesehen. Der Schmerz über den Verlust der Heimat war unermeßlich. Wir im Zeitalter des Wohlstandes und der Entspannung Lebenden sollten uns kein Urteil anmaßen über derartige Aussagen, die fünfzig Jahre zurückliegen.

Es war am 4. März um Mitternacht, ich kam auf die Straße, um nach dem Rechten zu sehen -ich vertrat seit vier Wochen den Bürgermeister, der freiwillig für mich den Dienst beim Volkssturm übernommen hatte-, denn die durchziehenden Trecks standen schon seit Stunden auf der Stelle. Die Straße war total verstopft. Ich hörte laute Rufe und erkannte einen Mann aus der Nachbargemeinde, der mir sagte, daß sie unterwegs seien. Wir hatten noch keinen Räumungsbefehl. Am Morgen des 4. März rief ich dann gleich beim Landratsamt an und fragte, ob wir fahren könnten. Die Antwort war: 'Ja, fahren Sie! Der übrige Volkssturm geht als Begleitung mit.'
Somit rückten wir am 4. März gegen Mittag ab. Wir wollten den Weg abschneiden und fuhren zum Teil durch den Wald nach Matzdorf, um auf einen kürzeren Weg nach Gollnow zu kommen. Der Weg war aber so schlecht, daß die Pferde schon nach kurzer Strecke wie Schimmel aussahen. Einige Fuhrwerke kamen noch rechtzeitig durch. Der Feind hatte uns schon rechts und links überholt, doch bei Gollnow war noch ein Loch offen. Andere sind die Strecke über Massow zur Autobahn bei Lenz gefahren und haben die Autobahn noch erreicht. Das Dorf ist nicht in einem geschlossenen Treck abgerückt, und so sind wir auf der anderen Seite der Oder nach allen Richtungen zerstreut worden.
Ich hatte Pech, meine Pferde streikten und ich blieb zurück. Einige Tage hielt ich mich im Walde auf dem Dolgenkrug, einer Schäferei, die zu Matzdorf gehörte, auf. Danach kehrten wir wieder nach Pflugrade zurück. Daher weiß ich genau über den Zustand des Dorfes Bescheid.
Große Kämpfe hatte es nicht mehr gegeben. Ungefähr 10-12 Russen lagen schon im Grab mit Kreuz und Hügel. Gräber von Deutschen habe ich nicht gesehen. Auch habe ich im Dorf keine Toten gefunden. Einige Gehöfte waren eingeäschert. Drei Wochen war ich nach dem Feindeinmarsch in unserem Dorf, zusammen mit vielen anderen, die auch überrascht worden waren oder nicht weg wollten. Wir wurden von den Russen zum Arbeiten auch in den Nachbardörfern eingeteilt. Wir mußten Kadaver beseitigen und Tote beerdigen, die von den Trecks in den Straßengräben liegengeblieben waren. Zum Teil waren sie erschossen worden.
Frauen und Mädchen waren sich gar nicht sicher und mußten sich, was nicht immer glückte, verstecken. Vergewaltigt wurde zu jeder Zeit. Es waren meistens Mongolen, die unter Alkohol standen.

Flucht meiner Großeltern aus Pflugrade (nach Erzählungen meines Vaters und Frau Struck, ehem. Pflugrade)

Obwohl die Rote Armee in den letzten Kriegswochen ständig näher heranrückte, wollten die Pflugrader Bewohner erst den Räumungsbefehl des Landratsamtes abwarten. So entschloß man sich erst nach Eingang dieses Befehls am Vormittag des 04.03.1945, Pflugrade zu verlassen.
Die meisten Pflugrader Bewohner flüchteten vor der anrückenden Roten Armee in Richtung Südwesten in den Matzdorfer Wald. Es gab keinen geschlossenen Treck. Meine Großeltern warteten im Wald ab, bis die Front an ihnen vorbeigezogen war und kehrten nach einigen Tagen wieder auf ihren Hof zurück. Das Wohnhaus fanden sie abgebrannt vor.

Über die folgenden Monate in Hinterpommern gibt es leider nur bruchstückhafte Informationen.
Die Pflugrader scheinen ein paar Tage in ihren Häusern/ Wohnungen gelebt zu haben. Eine ehemalige Pflugraderin schrieb 2001 in einem Brief an mich, daß ein Kommandant auf den Ausbau kam, wo meine Großeltern wohnten. Einige junge Mädchen und Frauen aus dem Dorf schliefen auch dort. Die Pflugrader Bewohner mußten dann wegen Partisanenbekämpfung nach Gutendorf (ein Nachbarort) ziehen. Als sie in Gutendorf ankamen, kamen Russen und suchten Leute zum Arbeiten. Gutendorf war ein Dorf, so schrieb die Pflugraderin, „wo früher nur Tagelöhner und ein Gutsbesitzer von der Osten gewohnt haben“. Obwohl sie nicht mehr viel besaßen, mußten die Pflugrader hilflos Plünderungen über sich ergehen lassen. Ein Pole Kasimir war der „Chef“. Um 6 Uhr früh mußte alles antreten, „nur Tote bleiben zu Hause“. Die Pflugrader mußten melken und Zuckerrüben verziehen und mit dem Pferd Heu wenden. Andere mußten Schweine füttern und sie auch waschen. Einige Männer mußten Nähmaschinen, die anschließend nach Rußland geschickt wurden, mit Brettern vernageln. Die Versorgungslage war katastrophal: die Menschen mußten ein paar Stunden lang nach einem Teller Suppe anstehen.
Die Mädchen und jungen Frauen schliefen im Gutshaus in einem Zimmer. Hier war auch die Kommandantur. Dort mußten einige Frauen alle Greuel des Krieges mit Vergewaltigungen durch russische Soldaten durchleben.
Alle in Gutendorf arbeitenden Einwohner von Pflugrade, darunter auch meine Großeltern, wurden am 25.06.1945 gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Ein Pferdewagen wurde zur Verfügung gestellt, wo Alte (u.a. meine Urgroßeltern) und Kinder Platz nehmen konnten und das wenige Gepäck, was ihnen noch verblieben war, verladen wurde.
Die Jüngeren waren mit dem bißchen Habe, was sie tragen konnten, zu Fuß in Richtung Stettin unterwegs. Meine Großeltern hatten einen kleinen Ziehwagen.
Sie wurden in die Nähe von Pölitz gebracht. Von dort durfte jeder nur etwas Handgepäck mitnehmen. Sie wurden mit einer Fähre übergesetzt und dachten, daß für sie nun die schlechte Zeit zu Ende sei. In einer Baracke, wo es durchregnete, kamen sie zunächst unter. Keiner kümmerte sich, ob sie etwas zu essen hatten. In diesen schweren Zeiten ging es allen schlecht und die Pflugrader wurden des öfteren beschimpft mit: „Ihr faule Bande, macht, daß ihr weiterkommt, uns noch das Brot wegessen!“ Die Pflugrader waren im ganzen vier Wochen unterwegs, immer zu Fuß. Unterwegs schliefen sie in Ställen und Schuppen, es nahm sie ja niemand in die Wohnung. Sie wurden als Zigeuner und Polacken beschimpft.
Unterwegs wurde meine Großmutter von Ihren Eltern (meinen Urgroßeltern) getrennt, danach haben sie sich nicht wiedergesehen. Später hörten wir, daß meine Urgroßmutter
(78 Jahre) schließlich so von den Strapazen geschwächt gewesen war, daß sie am 12.07.1945 in Hintersee, Kr.Ueckermünde, in einem Straßengraben verstarb.
Mein Urgroßvater (79 Jahre) verstarb am 03.08.1945 im Seuchenkrankenhaus in Neustrelitz.

Meine Großeltern wurden nach Grischow/ Ivenack in Mecklenburg verlegt und lebten dort bis April 1946 in einer Schweineküche. Weil Bekannte aus Massow, Kreis Naugard, nach Klein Pampau, Holstein, in die Britische Zone geflüchtet waren, entschlossen sich meine Großeltern, ebenfalls dorthin zu ziehen. So kamen sie mit einem Transport am 25.04.1946 in Klein Pampau an, wo beide im Jahr 1959 verstarben. Ich wurde 1956 hier geboren.


<Zurück> <Home >